6. September 2022

Die Schweiz ist gebaut

| von Andreas Haug

Das Thema Gebäude ist in der Debatte über die Klimakrise allgegenwärtig. Meistens sprechen wir dabei über den Betrieb von Gebäuden, vor allem über das Heizen. Das hat gute Gründe, denn noch immer machen die Emissionen aus dem Gebäudebetrieb rund 25 Prozent unserer inländischen Treibhausgasemissionen (ohne internationalen Luftverkehr) aus.

Was bei den Emissionen aus dem Gebäudesektor jedoch nicht mitgerechnet wird, sind die Treibhausgase, die bei der Erstellung und dem Abriss von Gebäuden ausgestossen werden. Man spricht hier auch von «grauen Emissionen». Diese fallen zum Teil im Inland an, aber auch im Ausland, wo zum Beispiel Baustoffe für Schweizer Gebäude produziert werden. Was vielen nicht bewusst ist: Bei modernen Gebäuden verursacht der Bau selbst mehr Emissionen, als das Beheizen, Kühlen und Beleuchten während der gesamten Nutzungsdauer zusammen. Aus Sicht des Klimaschutzes lohnt sich ein Abriss und Neubau daher so gut wie nie.

Doch was verursacht eigentlich diese grauen Emissionen? Wir alle kennen den typischen Anblick einer Baustelle: Dazu gehören Maschinen und Geräte wie Zementmischer, Bagger und Baulastwagen. Sie alle benötigen Treibstoff oder Strom. Der grösste Anteil der grauen Emissionen steckt jedoch in den Baumaterialien selbst, vor allem im Zement, in Metallen und im Glas.

Zement, das Bindemittel von Beton, ist alleine für 8 Prozent der weltweiten Treibhausgas-Emissionen verantwortlich. Und die Schweiz gehört zu den Ländern mit dem höchsten Zementverbrauch pro Kopf. Sowohl die hohen Temperaturen, die bei der Herstellung von Zement benötigt werden, als auch die chemische Reaktion, die dabei abläuft, setzen hohe Mengen an CO₂ frei. Der CO₂-Fussabdruck von Stahl und anderen Metallen ist bei Schweizer Gebäuden sogar noch höher als der von Beton.

Die Alternativen zu Zement und Stahl sind überschaubar. Ressourcenschonende Baustoffe wie Holz, Lehm und Stroh sind zweifelsfrei Teil der Lösung. Aber auch diese Rohstoffe sind nicht in unendlichen Mengen verfügbar und ihre Klimabilanz hängt stark von ihrer Verarbeitung ab. Verleimte Holzplatten etwa sind erstaunlich energieaufwendig. Und schliesslich stecken auch in «reinen Holzbauten» noch immer jede Menge Beton und Metall im Fundament, im Keller und in der Haustechnik.

Das grösste Einsparpotenzial liegt bei den grauen Emissionen daher woanders: Wir müssen weniger bauen. Bestehende Gebäude müssen saniert und allenfalls an neue Nutzungen angepasst werden. Sie abzureissen und damit Platz für einen Neubau zu schaffen, muss zur absoluten Ausnahme werden. Zugespitzt muss es von nun an heissen: Die Schweiz ist gebaut.

Um die wachsende Bevölkerung unterzubringen, müssen wir unsere Wohn- und Arbeitsfläche besser nutzen, statt neue Hochhäuser aus dem Boden zu stampfen. Damit bestehende Gebäude optimal belegt sind, müssen wir auch Möglichkeiten der Mehrfach- und Umnutzung berücksichtigen. Ein positives Beispiel dafür ist die alte Rennbahnklinik in Muttenz (BL): Als eine Sportklinik 2014 ihren Standort wechselte, baute Salathé Architekten Basel das nun leerstehende Gebäude zu einem Studentenwohnheim mit insgesamt sechzig Wohnungen um.

Dort, wo auch in Zukunft ein Neu- oder Umbau nicht vermeidbar ist, sollten Baustoffe möglichst sparsam verwendet und – wo sinnvoll – wiederverwendet oder recycelt werden. Im Atelierhaus K118 in Winterthur verwendete «baubüro» in situ etwa mehr als die Hälfte des Baumaterials aus abgebrochenen Bauten. So konnte im Vergleich zu einem Neubau 60 Prozent der CO₂-Emissionen eingespart werden. Doch man darf das Potenzial von Recycling auch nicht überschätzen: Ganze Bauteile mehrfach zu verwenden, ist meist sehr sinnvoll. Die Klimabilanz von Recyclingbeton ist aktuell aber noch nicht viel besser, in der Regel sogar schlechter als neuer Beton.

Der Lösungsansatz des «Nichtbauens» ist da vergleichsweise simpel – und gleichzeitig hochkomplex. Denn unter den aktuellen Rahmenbedingungen sind Neubauten oft der einfachere und lukrativere Weg als Sanierungen oder Umnutzungen. Das liegt unter anderem daran, dass es bei der Erstellung von Gebäuden – im Gegensatz zum Betrieb – keinerlei Vorschriften bezüglich Emissionen gibt. Ausserdem ist der Bausektor eng mit dem Anlagemarkt verbunden. Gebäude werden oft nicht aus einem räumlichen Bedarf heraus  gebaut, sondern weil sie beliebte Renditeobjekte sind – unter anderem für Pensionskassen. 

Um das zu ändern, müssen wir auf mehreren Ebenen gleichzeitig ansetzen. Eine angemessene CO₂-Bepreisung ist zentral. Denn die Kosten, die der Bau für das Klima verursacht, sollten auch von den Verursachern übernommen werden. Zusätzlich braucht es aber auch Normen und Gesetze, welche die richtigen Anreize setzen und klimafreundliches Bau- und Nutzerverhalten fördern. Nur unter den richtigen Bedingungen kann sich auch die Baukultur weiterentwickeln, sodass wir beim Bauen in Zukunft mehr klimafreundliche Alternativen zur Verfügung haben.

Voraussetzung für all diese Massnahmen ist ein gesteigertes Bewusstsein für die Relevanz der grauen Emissionen im Bausektor. Davon war bisher sowohl in der Wirtschaft als auch in der Politik wenig zu spüren. Seit Kurzem beginnt sich das nun zu ändern: Es existieren erste Gebäudestandards wie der SIA-Effizienzpfad und auch politisch bewegt sich einiges. Doch geschieht nach wie vor viel zu wenig und deutlich zu langsam. Nur wenn wir das Tempo massiv erhöhen und alle Hebel in Bewegung setzen, kann auch die Baubranche klimaneutral werden.

Andreas Haug plant als Architekt seit 2018 beim Baubüro in situ Umnutzungsprojekte mit nachhaltigen oder wiederverwendeten Materialien. Er ist Mitglied beim Verein Countdown 2030, der sich für eine klimagerechte Baukultur engagiert.

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