13. September 2022

Klimaneutrale Medikamente – drei Ansätze

| von Dr. Jonas Hostettler

Kaum jemand zweifelt heute noch daran, dass unsere Energieversorgung in der nahen Zukunft CO₂-neutral sein wird: fossile Energieträger wie Erdöl, -gas und Kohle werden durch erneuerbare Energien ersetzt. Doch auch in Kunststoffen, Baustoffen und Medikamenten steckt fossiles Erdöl – nicht als Energielieferant, sondern als Rohstoff. In aufwendigen Verfahren wird das Öl in neue Produkte umgewandelt, zum Beispiel in ein Medikament mit fiebersenkender Wirkung. 

Wenn wir Medikamente einnehmen, so werden dessen Inhaltsstoffe entweder in uns selbst, oder nachdem sie ins Abwasser gelangten, abgebaut. Dabei entsteht CO₂ fossilen Ursprungs, da der im Medikament enthaltene Kohlenstoff aus Erdöl stammt. Ähnlich verhält es sich mit einem aus Erdöl hergestellten Stück Kunststoff: Nach Gebrauch, idealerweise nach einigen Recycling-Durchgängen, landet der Kunststoff in der Kehrichtverbrennungsanlage. Dort reagiert der darin enthaltene Kohlenstoff zu CO₂. 

Können wir in einer CO₂-neutralen Welt weiterhin Medikamente, Baustoffe, Kunststoffe und andere Produkte der chemisch-pharmazeutischen Industrie verwenden? Ganz klar ja! Denn es gibt mehrere Ansätze, wie solche Produkte klimaneutral hergestellt werden können:

  1. Aus Pflanzen werden Medikamente:
    Bei diesem Ansatz stammt der Kohlenstoff in den Medikamenten nicht aus fossilem Erdöl, sondern aus Pflanzen. Diese entziehen der Atmosphäre Kohlenstoff in Form von CO₂. Beim Abbau des Medikaments wird dieser Kohlenstoff dann wieder freigesetzt. Somit ist ein solches Medikament CO₂-neutral.
    Zu einem geringen Anteil wird dies bereits heute gemacht. Eine Ausweitung wäre an sich möglich, hätte aber mit denselben Herausforderungen zu kämpfen wie die «Biotreibstoffe»: Konkurrenz zur Nahrungsmittelproduktion, Druck auf die Wälder, hoher Wasser-, Energie- und Flächenverbrauch und teilweise der Einsatz von Dünger, Herbiziden und Pestiziden.

  2. Kohlenstoff für Chemikalien aus der Luft filtern:

    Alternativ kann CO₂ industriell aus der Luft gefiltert oder direkt aus Abgasen von Kehrichtverbrennungsanlagen oder Biomassekraftwerken gewonnen werden. Danach wird das CO₂ mit Wasserstoff in erdölähnliche Kohlenwasserstoffe umgewandelt, woraus wiederum Medikamente und andere Stoffe hergestellt werden können.
    Nachteil dieses Ansatzes ist der sehr hohe Energiebedarf: Das Einfangen des CO₂ ist sehr energieaufwendig. Und für die anschliessende Umwandlung in Kohlenwasserstoffe benötigt man noch einmal zehnmal soviel Energie. Damit die Produktion klimaneutral ist, muss diese Energie natürlich aus erneuerbaren Quellen stammen.

  3. Weiter wie bisher – aber mit negativen Emissionstechnologien:
    Zuletzt kann die chemische Industrie auch weiterhin Erdöl als Rohstoff einsetzen. Sie muss jedoch sicherstellen, dass die beim Abbau der Produkte freigesetzte CO₂-Menge wieder eingefangen und sicher eingelagert wird.
    Dafür sind sogenannte negative Emissionstechnologien notwendig, z.B. DACCS-Verfahren (Direct Air Carbon Capture and Storage), die unter anderem von der Firma Climeworks erforscht und auch bereits angewendet werden. Laut dem Weltklimarat (IPCC) sind genügend sichere Lagerstätten für CO₂ vorhanden, das aus der Atmosphäre gefiltert wurde. Das Verfahren ist weniger energieintensiv als die Variante 2, doch müsste dafür weiterhin Erdöl in geringem Umfang gefördert werden. 


Jeder der drei Ansätze hat seine Vor- und Nachteile. Welcher davon sich durchsetzen oder ob alle drei parallel zum Einsatz kommen, wird sich zeigen. Was jedoch sicher ist: Die Lösungswege für eine CO₂-neutrale chemisch-pharmazeutische Industrie sind vorhanden. Und wir können sie uns problemlos leisten: Die Umstellung auf CO₂-neutrale Rohstoffe wird Medikamente um maximal 1 Prozent verteuern. Das ist nichts im Vergleich zu den Schwankungen der Rohstoffpreise oder der Wechselkurse. 

Der Übergang zu einer klimaneutralen Produktion muss demnach sofort in Angriff genommen werden. Indem wir die chemisch-pharmazeutische Industrie CO₂-neutral machen, können wir weiterhin von deren Errungenschaften profitieren. Denn Hand aufs Herz: sowohl auf Medikamente wie auch auf moderne Bau- und Kunststoffe wollen und können wir nicht verzichten. 

Jonas Hostettler ist promovierter Chemiker, Kantonsschullehrer und Mitgründer der «Eltern fürs Klima»

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